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Annäherungen an ein schillerndes Gewässer

Angst vorm Meer ‒ gepaart mit Faszination

Neben den Freuden und Unbilden am Rande des Meeres ‒ die beliebig weiter ausdifferenziert werden könnten ‒ soll hier noch auf die Befindlichkeiten derer eingegangen werden, denen die Weite und Tiefe des Meeres Angst machen. Diese Angst (zuweilen ist es auch keine explizite Angst, eher eine Aversion wie bei unserem notorischen Nörgler Travnic) kann recht unterschiedlich daherkommen. Recht kategorisch bei Menschen, die aufgrund ihrer Grundstimmung erst gar nicht ans Meer fahren und ihre Sehnsucht nach Ruhe, Entspannung wie auch Abenteuer eher in den Bergen oder Ebenen von Flusstälern stillen. Sie kann auftreten als Gefühl der Unsicherheit, der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins an eine unvertraut-unverlässliche „Landschaft” ‒ an ein Element, das ”keine Balken” hat, in dem man sich verlieren, untergehen kann. Dieses Gefühl muss nicht ausschließlich Nichtschwimmer überfallen, es kann auch Schwimmer heimsuchen, die zwar gern ins Wasser gehen, aber panische Angst entwickeln, wenn sie plötzlich keinen Grund mehr unter ihren Füssen spüren. Oder Menschen, denen allein bei dem Gedanken, „irgendwas”, ein Fisch, eine Qualle, ein „Hai”, eine Harpune, ein Netz, ein Seeigel, ein „Riff” könne ihnen unter Wasser zu nahe kommen, der Mut vergeht, sich mehr als in Brusttiefe vom sicheren Horizont des Ufers fortzubewegen.

Zudem gibt es Urlauber, die gern ans Meer fahren, aber nicht schon genauso gern ins Meer gehen. Zum Beispiel die Wanderer, die das weite Meer eher von weitem, auf mehr oder weniger sicheren Küstenpfaden lieben und ihm ‒ wenn überhaupt ‒ nur zur Abkühlung (allenfalls bis zum Knie, ohne dass dies in Schwimmen ausartete) oder zur Muschel- und Steinsuche ihre Aufwartung machen.

Häufig haben sie ein gebrochenes, zuweilen voyeuristisches, manchmal auch ängstlich vorsichtiges, schüchternes, mitunter auch anbetend verehrendes Verhältnis zum Meer. Sie sehnen sich nach seiner Nähe, ohne sie wirklich genießen zu können. Sie lassen sich nicht (ins Wasser) fallen, sie scheuen sich davor, „eins mit ihm” zu werden. Wie ein sich nach Liebe Sehnender, der ‒ wenn er ihr begegnet ‒ flüchtet, um sich an ihr aus der Ferne zu ergötzen, dabei aber immer auch wieder Anstalten macht, sich dem Objekt seiner Begierde zu nähern ‒ träumerisch.

Wenn sie die wellengebastelten, am Strand ermattenden Schaumkronen an ihren nackten Füßen spüren, lassen ihre Gesichtszüge ein Wohlgefühl ahnen, das gleichwohl an der Leine der Angst verbleibt, sich verlieren zu können. Sie bleiben draußen, weil ihnen das Reingehen, das Drinnen­bleiben ge­fähr­lich und ungeheuerlich erscheint. Ebbe und Flut: eine einzige Verführung, das Vor und Zurück, das Auf und Ab erotisch zu buchstabieren. Ebbe und Flut: eine einzige Mahnung, zu fliehen, bevor man ertrinkt.

Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Annäherungen an das schwer fassbare, aus jeder Schublade gleich wieder herausfließende Element Meer auf keine wie immer geartete Definition oder Bestimmung ausgerichtet sind. Auch führen sie nichts im Schilde, was auf eine auch nur in Ansätzen konturierte Typologie von Meeres(be)suchern oder -meidern zielte. Als mentale, biografisch gefärbte, distanziert betrachtende wie ironisch gebrochene Streifzüge verstehen sie sich eher als ein Impuls, eine Einladung an Passanten, ihr je eigenes Verhältnis zum Meer aufzumachen, zu erkunden oder zu vertiefen ‒ um es für sich zum Sprechen zu bringen, in sich lebendig werden zu lassen, weiterzuschreiben. Sei es allein, sei es im Austausch mit anderen ‒ oder auch durch einen beherzten Sprung vom Felsen.

Anders als Sisyphos, nicht den von den Göttern geforderten Berg hinan, sondern den Felsen in das Nass lockender Sirenen hinab. Bergauf oder in die Tiefe, Mühsal oder Heiterkeit ‒ wie immer ohne Gewähr. Man muss beides zu seiner Sache machen.

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Von Hans Lösch, München im März 2014